Fernando Pessoa:Ich legte die Maske ab.
- Taschenbuch 1986, ISBN: 3379000469
Gebundene Ausgabe
[ED: Taschenbuch], [PU: Reclam], es geschah in der Nacht des 8. März 1914, so könnte in der Tat ein Nachwort über das Werk dieses größten portugiesischen Dichters seit Camões beginnen. Fe… Mehr…
[ED: Taschenbuch], [PU: Reclam], es geschah in der Nacht des 8. März 1914, so könnte in der Tat ein Nachwort über das Werk dieses größten portugiesischen Dichters seit Camões beginnen. Fernando Pessoa ist der Begründer der modernen Dichtung seines Landes und eine der Schlüsselfiguren in der Entwicklung der zeitgenössischen Dichtung überhaupt, die in Apollinaire, Majakowski und eben Pessoa um jenes Jahr 1914 ihre wichtigsten Vertreter gefunden hatte.
Ob man will oder nicht, es gibt einen „Fall“ Pessoa; einen Fall und Grenzfall innerhalb der modernen Dichtung, die von der radikalen Feststellung Rimbauds ausgeht: „Denn ich bin ein anderer.“ Das Geheimnis des Werkes und seiner poetischen Verfahrens- und Wirkungsweise liegt bildlich sogar in den Buchstaben des Namens seines Autors verschlüsselt: „Pessoa“ bedeutet Person, Maske, Fiktion, Niemand. Eine an äußeren Ereignissen arme Dichterbiographie verbindet sich im Fall Pessoas mit der konkreten Existenz personifizierter Fiktionen. Diese wurden mit Eigennamen bedacht, haben ihre eigene biographische und literarische Geschichte, verkörpern verschiedene Auffassungen von Dichtung, die kontrapunktisch gegeneinander abgesetzt in ihren Werken zum Ausdruck kommen. Diese klar umrissenen Dichtergestalten, in die sich der Schriftsteller Pessoa eines Tages gespalten hat, tragen die Namen Alvaro de Campos, Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Fernando Pessoa. So erklärt es sich, daß der erstaunte Leser in einem Lyrikband von Fernando Pessoa die Gedichte im Grunde von vier Autoren findet.
Pessoa selbst hat uns in dem Bemühen, Klarheit über sein poetisches Tun und Lassen zu gewinnen, Rechenschaft über diese poetologische Persönlichkeitsspaltung abgelegt. Es gibt im Fall Pessoa wie in jedem richtigen Kriminalfall einen Augenzeugen, der aus eigener Erinnerung die Szene des Verbrechens rekonstruieren kann, und in diesem Fall heißt der Zeuge ebenfalls Pessoa. In einem Brief von 1935 an, Adolfo Casais Monteiro, einen der jungen Kritikerfreunde, die sich um die Zeitschrift Presença geschart hatten, beschreibt er aus ferner Erinnerung die Geschichte und Vorgeschichte jenes Tages, der ein literarisches Meisterwerk in seiner eigentümlichen Besonderheit begründen wollte. „Gegen 1912, wenn ich nicht irre (groß kann der Irrtum auf keinen Fall sein), kam ich auf den Gedanken, einige Gedichte heidnischer Art zu schreiben. Ich skizzierte einiges in freien Versen (nicht im Stil Alvaro de Campos’, sondern in einem Stil halber Regelmäßigkeit) und gab dann die Sache auf. Gleichwohl war mir in einem schlecht gewobenen Halbschatten ein ungefähres Bild der Person erschienen, die diese Verse schrieb. (Ohne mein Wissen war Ricardo Reis geboren.)
Anderthalb oder zwei Jahre später verfiel ich eines Tages auf den Gedanken, dem Sá-Carneiro einen Streich zu spielen – einen bukolischen Dichter komplizierter Natur zu erfinden und ihn, wie weiß ich nicht mehr, mit einem Anstrich von Wirklichkeit vorzustellen. Ich verbrachte einige Tage damit, diesen Dichter auszuarbeiten, aber es wurde nichts daraus. An dem Tage, an dem ich es endlich aufgegeben hatte – es war der 8. März 1914 -, stellte ich mich an eine hohe Kommode, nahm ein Stück Papier und begann zu schreiben, stehend, wie ich immer wenn irgend möglich schreibe. Ich schrieb über dreißig Gedichte in einem Zuge in einer Art von Ekstase; deren Besonderheit ich nie werde definieren können. Es war der triumphale Tag meines Lebens; einen anderen dieser Art werde ich nicht erleben. Ich begann mit einem Titel: ,Der Hirte‘. Und dann erschien jemand in mir, dem ich sogleich den Namen Alberto Caeiro gab. Entschuldigen Sie das Absurde des Satzes: In mir war mein Meister erschienen. Dies war meine unmittelbare Empfindung. Und sie war derart mächtig, daß ich, kaum waren die über dreißig Gedichte geschrieben, sofort zu einem anderen Bogen griff und gleichfalls in einem Zuge die sechs Gedichte niederschrieb, die den ,Schrägen Regen‘ Fernando Pessoas bilden. Es war die Rückkehr von Fernando Pessoa Alberto Caeiro zu Fernando Pessoa allein. Oder besser: Es war die Reaktion Fernando Pessoas auf seine Nicht-Existenz als Alberto Caeiro.
Als Alberto Caeiro erschienen war, versuchte ich alsbald – instinktiv und unbewußt – Schüler für ihn zu entdecken. Ich entriß den latenten Ricardo Reis seinem falschen Heidentum; entdeckte seinen Namen und paßte ihn sich selbst an – denn in diesem Augenblick sah ich ihn schon. Und auf einmal stieg vor mir – entgegengesetzter Herkunft zu Ricardo Reis – ein neues Individuum auf. In einem Wurf kam, an der Schreibmaschine, ohne Unterbrechung oder Verbesserung, die ,Triumph-Ode‘ Alvaro de Campos’ ans Licht – die Ode mit diesem Namen und der Mensch mit, seinem Namen.
Dann schuf ich eine inexistente Coterie. Ich bestimmte alles nach den Regeln der Wirklichkeit. Ich stufte die Einflüsse ab, lernte die Freundschaften kennen; hörte in mir die Diskussionen und abweichenden Auffassungen, ‚und bei alledem scheint mir, ich selbst, der Schöpfer all dessen, sei dabei am wenigsten beteiligt gewesen. Alles scheint sich unabhängig von mir begeben zu haben. Und anscheinend begibt es sich noch heute so. Wenn ich eines Tages die ästhetische Diskussion zwischen Ricardo Reis und Alvaro de Campos publizieren kann, werden Sie sehen, wie verschieden sie sind und daß ich für diese Angelegenheit ohne jede Bedeutung bin.“ (Übersetzt von Georg Rudolf Lind.)
Dieses verblüffende Dokument führt uns direkt ins Zentrum des Problems, das die Dichtung Pessoas in sich darstellt. Die Dichtung der Heteronyme bedeutet die Unmöglichkeit der Existenz von Reis, Campos und Caeiro ohne Pessoa, andererseits aber auch die fast identische Unmöglichkeit, daß Pessoa ohne sie existiert. Hier geht nichts weiter vor, als daß mit der Zerstörung des Mythos von der Einheit des Werkes die Erfahrung der Dichter und Künstler unseres Jahrhunderts, die eine ständige Metamorphose durchgemacht haben und dabei ein zyklisches Werk schufen. – denken wir nur an Picasso oder an Neruda -, zu einem Exempel statuiert wird. Daher auch der paradigmatische Wert. Pessoa hat. diese Metamorphose blitzartig vollzogen: Er ist von Stund an vier Dichter auf einmal, deren Werk höchstens durch die Grenzen der poetischen Praxis selbst eine Einheit verliehen wird. Es ist ein, Grenzfall, der zur Voraussetzung hatt, daß man sich der poetischen Mittel und Verfahrensweisen als solcher neu bewußt wird, was dank der Bemühungen der künstlerischen Avantgarde jener Jahre gelang, die den festgefügten historisch-sozialen literarischen Kanon auf seine Brüchigkeit hin überprüften, die künstlerischen Mittel neu erprobten und zur Verfügung stellten, das heißt, den Anschluß an die Erneuerungsbestrebungen in Kunst und Dichtung im Europa jener Jahre fanden.
Fernando António Nogueira Pessoa wurde am 13. Juni 1888 in Lissabon geboren. Sein Vater, ein Ministerialbeamter, starb früh (1892), und die Mutter verheiratete sich in zweiter Ehe mit dem portugiesischen Konsul von Durban in Südafrika. Fernando erhielt in Durban eine englische Erziehung, er besuchte ein englisches Gymnasium und ist so zweisprachig aufgewachsen. Es war jene Zeit um die Jahrhundertwende, als der portugiesische Kolonialismus, der im 19. Jahrhundert das historische Paradoxon schuf, von Brasilien nicht vom Mutterland aus die ausgedehnten Überseebesitzungen zu regieren, seine Macht erneut zu festigen begann, diesmal von der Metropole Lissabon aus, und zwar auf so lange Dauer und in einer solchen totalen Abhängigkeit von den Kolonien, daß erst nach einem halben Jahrhundert die Volksbefreiungsbewegungen in Afrika selbst die Herrschaft sprengen konnten.
Pessoa kehrte 1905 plötzlich nach Lissabon zurück, als er gerade ein Studium an der Kap-Universität beginnen wollte. In Lissabon schreibt er sich an der Philosophischen Fakultät ein, unterbricht jedoch nach zwei Jahren das Studium, weil es ihm in einem schrecklichen provinziellen Akademismus befangen schien. Seit dieser Zeit sollte er seine Geburtsstadt Lissabon kaum mehr verlassen, wo er nach einem gescheiterten Versuch, eine Druckerei zu gründden (1907), von mehr oder minder einträglichen Arbeiten als Handelskorrespondent für verschiedene Lissabonner Firmen lebte. Das zog er einer Dozentur, die ihm einmal angeboten worden war, an der konservativen Universität vor. Der einzige Posten der ihm erstrebenswert erschien, der Posten eines Bibliotheksarchivars, um den er sich 1932 bewarb, wurde ihm mit einer Begründung abgelehnt, die auf seine Beherrschung der portugiesischen Sprache anspielte. Am 30. November 1935 starb Pessoa siebenundvierzigjährig an den Folgen einer Leberkolik.
Die ersten Gedichte stammen aus den Jahren 1905 bis 1908,: sie waren noch in englisch verfaßt und führten einen vertrauten Dialog mit Keats und Poe, zu denen sich später auch Baudelaire gesellte. in portugiesisch zu schreiben begann Pessoa 1912 als Kritiker der Zeitschrift A Aguia, dem Sprachrohr der „Renascença Portuguesa“ (Portugiesischen Wiedergeburt), die ideologisch gesehen einen kritischen Standpunkt zur feudalen und kolonialistischen Gegenwart Portugals einnahm. Sie strebte eine neue Blütezeit der portugiesischen Dichtung nach dem Vorbild des Symbolismus an. 1914, ein Jahr, nachdem in Paris Apollinaires Les peintres cubistes (Die kubistischen Maler) erschien, lernte Pessoa zwei junge Künstler kennen, die seine Weggefährten im Kampf um die Erneuerung der portugiesischen Kunst und Dichtung und um ihren Anschluß an die europäische Avantgarde werden sollten. Es sind dies der Dichter Mario de Sá-Carneiro (1890-1916), der gerade aus Paris zurückgekommen war, und der Maler Almada-Negreiros, dem wir einige bemerkenswerte Porträts von Pessoa verdanken, auf denen wir ihn im dunklen Anzug sehen, schüchtern, zurückhaltend, kurzsichtig, mit der ewigen Zigarette in der Hand. Die theoretischen Diskussionen mit ihren um die Erneuerung der Kunst in Portugal finden bei Pessoa ihren Niederschlag in einem Entwicklungsprozeß, der über die Rezeption und gleichzeitige Neuerarbeitung der künstlerischen Problematik der Avantgarde bis zu jenem 8. März 1914 reicht, an dem der Meister Alberto Caeiro geboren wurde sowie seine Schüler: der neoklassische, traditionsgebundene Formkünstler Ricardo Reis und der herausfordernde futuristische Dichter, der Dichter der Wahrnehmungen und Empfindungen, der verbalen Exzesse und der antibürgerlichen Haltung, Alvaro de Campos. „Sei, vielgestaltig wie das Weltall“, diese Devise von Pessoa hat in seinen Dichterpersönlichkeiten ein eigenes Leben angenommen. Jetzt ist nur noch ein Schritt bis zu einem Markierungspunkt in der modernen portugiesischen Poesie, der Veröffentlichung der Zeitschrift Orpheu im Jahre 1915, die heute von der marxistischen portugiesischen Kritik zu Recht als eine „wirkliche historische Explosion“ bezeichnet wird.
In der zweiten Nummer des Orpheu veröffentlichte Pessoa seine „Meeres-Ode“, die jetzt bereits einen festen Platz in der Dichtung des 20. Jahrhunderts innehat, damals aber erst einmal ein Wegweiser in den grundlegenden Anstrengungen zur Überwindung des Symbolismus war. Dieses Ziel ist auch immer eines der zentralen Themen in den literaturkritischen Artikeln von Pessoa, die zum Teil mit Alvaro de Campos gezeichnet und gegen Fernando Pessoa gerichtet waren und in denen die Überwindung der vorherrschenden, sich am Symbolismus orientierenden Dichtung die Perspektive für eine neue große portugiesische Poesie eröffnen sollte, deren baldige Schaffung der Futurist Alvaro de Campos prophezeite.
Jedoch erregte das Erscheinen der beiden revolutionierenden Nummern des Orpheu einen solchen Literaturskandal, daß es bei diesen beiden Nummern bleiben sollte. Sá-Carneiro verließ Lissabon und kehrte nach Paris zurück, wo er ein Jahr darauf Selbstmord beging. Fernando Pessoa aber hatte in dieser Zeit sein dichterisches Prinzip gefunden und machte mit dem absolut, klarsten Bewußtsein aus seiner Spaltung in verschiedene Dichterpersönlichkeiten – Ich bin ein anderer -, aus dem Widerspruch das Grundmodell, das System seiner Dichtung.
Andere Versuche, die portugiesische Avantgarde zu beleben, so etwa durch die Zeitschrift Portugal futurista, mußten scheitern. In der – allerdings einzigen – Nummer von Portugal futurista erschien eine anthologisch zu nennende, Sammlung von Diatriben des Alvaro de Campos mit dem Titel „Ultimatum“, die aufgrund ihrer poetischen Imagination und Gewalt als einzigartig zu bezeichnen sind und sich gegen jede etablierte Form der Kunst im damaligen Europa richteten. Die portugiesische Avantgarde wurde im Keim von einem kulturellen Leben und der Politik einer Gesellschaft erstickt, die sich mit überstürzten Schritten zum lang andauernden Faschismus des Oliveira Salazar hin bewegte.
Bereits in den zwanziger Jahren hatte Pessoa angesichts der Moral sexueller Repression, die von der faschistischen Gesellschaft propagiert wurde, Stellung bezogen und hatte die Aktivitäten von Studentengruppen der extremen Rechten verurteilt, der sogenannten „Liga der Aktion der Studenten“, deren Ziel die Unterdrückung jeder literarischen Äußerung war, die die Positionen der herrschenden Ideologie irgendwie antastete und eine kritische Distanz zum Machtapparat, zur herrschenden Moral und zu den Institutionen wie Kirche oder Heer zum Ausdruck brachte.
Es war die Zeit, in der Pessoa nach der Publikation von zwei kleinen in Englisch verfaßten Gedichtbänden Antinous und 35 Sonnets, die von der Londoner Times sehr kühl begrüßt wurden, „0 Banqueiro anarquista“ in der Zeitschrift Contemporanea veröffentlichte. Die Avantgarde sah sich in ihrem Kampf für eine sich befreiende Kunst jedesmal heftiger gezwungen, um die – bürgerliche – Freiheit der Kunst und des Ausdrucks zu kämpfen, und Pessoa bezog sogar entgegen einer persönlichen Stellungnahme zum Nationalismus Positionen der Heterodoxie und der Opposition gegen eine kolonialistische Gesellschaft, die sich bereits dem Delirium einer faschistischen Ordnung ausgeliefert hatte.
Erst nach seinem Tode begannen die Dichtungen Pessoas bekannt zu werden und seinen Weltruhm zu begründen. 1944 wurde mit einer achtbändigen Werkausgabe in Portugal begonnen, doch noch immer bleiben viele seiner literaturkritischen Arbeiten; aber auch seiner Gedichte unveröffentlicht. Langsam aber ist sein Werk in fast alle Sprachen übersetzt, und im befreiten Lissabon der Jahre 1974/75 wurde Pessoa als der Nationaldichter Portugals gefeiert.
Carlos Rincón, Nachwort, Berlin, September 1, DE, [SC: 3.90], leichte Gebrauchsspuren, privates Angebot, Banküberweisung, [CT: Drama/Lyrik / Lyrik allgemein]<