Camus, Albert:Der Fremde - der Fall
- Taschenbuch 1988, ISBN: 3804402089
[ED: Taschenbuch], [PU: Bange, C], Fünf Gründe, wieder Albert Camus zu lesen:
Erstens: Wegen dieses berühmten Romananfangs: „Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich w… Mehr…
[ED: Taschenbuch], [PU: Bange, C], Fünf Gründe, wieder Albert Camus zu lesen:
Erstens: Wegen dieses berühmten Romananfangs: „Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht. Aus dem Altersheim bekam ich ein Telegramm.“
Zweitens: Weil das Buch, das so berührend und ernüchternd beginnt, eines der Meisterwerke des vergangenen Jahrhunderts ist: In „Der Fremde“ ("L’étranger") führt uns Camus tief hinab in die unergründliche Seele. Der traurige Held Meursault bringt einen anderen Menschen um. Ohne Grund, aus innerer Leere, aus Gleichgültigkeit. Nur weil dieser Mensch ein anderer ist, ein „Fremder“.
Darin zeigt sich drittens die existenzielle Wucht von Camus’ Literatur – auf einen einfachen Nenner gebracht: Die Absurdität menschlichen Denkens und Handelns lässt sich letztlich nicht ergründen – Brutalität, Unmoral, Verbrechen. Der Roman wurde kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs geschrieben – er nimmt die Monstrosität der humanitären Katastrophe vorweg.
Viertens hat Albert Camus zwar eine ständige Revolte als Grundstimmung aller gesellschaftlichen Prozesse beschrieben. Er predigte aber nicht die Revolution. Albert Camus wandte sich gegen Fanatismus und zementierte ideologische Festlegungen – das führte in den 50er-Jahren zum Bruch mit dem ewigen Besserwisser Jean-Paul Sartre.
Fünftens: Albert Camus erhielt 1957 den Literatur-Nobelpreis. Das ist, wie wir spätestens seit diesem Jahr wissen, keine unumstrittene Ehrung. In diesem Fall jedoch gilt: Mit Albert Camus wurde damals ein Schriftsteller ausgezeichnet, in dessen Büchern auch 60 Jahre nach seinem Tod die existenzielle Verlorenheit des Menschen aufscheint.
In Albert Camus’ Roman »Der Fremde« geht es um das Absurde der menschlichen Existenz. Protagonist und Ich-Erzähler ist der Büroangestellte Meursault. Im Algerien der 1930er Jahre tötet er einen Menschen, von dem er sich bedroht sieht. Vor Gericht macht man aus dem Totschlag Mord und verurteilt Meursault zum Tode.
Der Roman wurde 1942 in Paris veröffentlicht und gehört zu den wichtigsten Werken des französischen Existenzialismus. Er besteht aus zwei Teilen: Der erste schildert die Ereignisse vor der Tat und das Verbrechen, der zweite den Gerichtsprozess und Meursaults Gefängnisaufenthalt bis zur Hinrichtung.
Erster Teil
I
Meursault, ein französischer Büroangestellter um die dreißig, lebt und arbeitet in Algier. Er erhält die Nachricht vom Tod seiner Mutter und fährt in ihr achtzig Kilometer entferntes Altenheim. Dort wacht er mit einigen Heimbewohnern eine Nacht lang an ihrem Sarg. Tags darauf findet die Beerdigung im Beisein weniger Trauergäste statt. Meursault nimmt daran mit derselben nüchternen Distanz teil, die er schon während der Totenwache gezeigt hatte. Er ist erleichtert, als er nach Algier zurückkehren kann.
II
Der folgende Tag ist ein Samstag. Meursault hat frei und geht an den Strand. Im Wasser trifft er zufällig seine frühere Kollegin Marie Cardona, an der er schon lange sexuell interessiert ist. Er lädt sie ins Kino ein und verbringt die Nacht mit ihr. Als er am Sonntagmorgen aufwacht, ist sie bereits fort. Meursault bleibt den ganzen Tag allein auf dem Balkon seiner etwas schäbigen Wohnung.
III
In der Woche darauf arbeitet Meursault wieder im Büro. An einem Abend wird er beim Nachhausekommen von seinem Flurnachbarn Raymond Sintès zum Essen eingeladen. Raymond wird der Zuhälterei verdächtigt. Er vertraut Meursault an, dass seine Geliebte ihn hintergangen habe und er sich an ihr rächen wolle. Teil seines Racheplans ist ein Brief an diese Frau, den Meursault schreiben soll. Meursault ist stark angetrunken und kommt der Bitte gedankenlos nach.
IV
Meursault verbringt viel Zeit mit Marie. Auf ihre Frage, ob er sie liebe, antwortet er ausweichend. Eines Mittags hören die beiden Schreie von nebenan: Raymond schlägt auf seine ehemalige Geliebte ein, die er mit Hilfe von Meursaults Brief in seine Wohnung gelockt hat. Nachbarn rufen die Polizei und Raymond erhält eine Vorladung auf das Kommissariat. Am Abend verspricht Meursault ihm, als Zeuge auszusagen, sein Nachbar sei von der misshandelten Frau provoziert worden.
V
Raymond ruft Meursault im Büro an, um ihn in das Strandhaus eines Freundes einzuladen. Kurz nachdem Meursault wieder aufgelegt hat, macht ihm sein Chef ein interessantes Karriereangebot. Er lehnt ab, weil er sich nicht nach Veränderung sehnt. Abends fragt ihn Marie, ob er sie heiraten wolle. Meursault willigt ein und sagt, es mache für ihn keinen Unterschied.
VI
Am Wochenende fahren Raymond, Meursault und Marie in das Strandhaus. Bei einem Spaziergang werden sie von zwei Arabern aus dem Umfeld von Raymonds Ex-Geliebter angegriffen. Die Männer verletzen Raymond mit einem Messer und flüchten. Später ist Meursault, der Raymonds Revolver an sich genommen hat, allein am Strand. Als er erneut einen der Araber auf sich zukommen und sein Messer im grellen Sonnenlicht aufblitzen sieht, zieht er die Waffe und tötet den Mann. Anschließend gibt er vier weitere Schüsse auf den leblosen Körper ab.
Zweiter Teil
I
Nach der Tat wird Meursault verhaftet und mehrfach verhört. Er verzichtet auf einen eigenen Anwalt und schildert dem Pflichtverteidiger sachlich, was passiert ist. Dabei bekennt er die Tat, nicht aber seine Schuld. Er fühlt keine Reue. Das bringt den gläubigen Untersuchungsrichter auf und veranlasst ihn zu einer flammenden Rede über Christus und seinen Kreuzestod.
II
Als Marie ihn nicht mehr im Gefängnis besuchen darf, beginnt für Meursault eine neue Zeitrechnung. Er sehnt sich nicht mehr nach Freiheit, sondern gewöhnt sich an die Haft. Er lernt, sich mit Hilfe seiner Erinnerungen die Zeit zu vertreiben. Dabei entdeckt er Gemeinsamkeiten zwischen seinem früheren und seinem jetzigen Dasein. Nach elf Monaten werden die Ermittlungen in seinem Fall abgeschlossen. Meursaults Haltung zu seiner Tat ist unverändert.
III
Der Prozess beginnt. Vor Gericht sagen mehrere Personen aus, Meursault habe bei der Beerdigung seiner Mutter teilnahmslos gewirkt. Man lastet ihm an, nur einen Tag später eine Kinokomödie gesehen und die Beziehung mit Marie begonnen zu haben. Als Indizien für seine Mordabsicht erscheinen der Brief, den er in Raymonds Auftrag geschrieben hat, und der Revolver, den er am Strand bei sich trug. Belastend wirken auch die vier Schüsse auf den bereits toten Mann.
IV
Der Staatsanwalt plädiert für die Todesstrafe. Er bewertet Meursaults Tat nicht als Totschlag, sondern als Mord. Als Begründung führt er verbrecherische Wesenszüge ins Feld, die er an Meursault zu erkennen glaubt. Der Verteidiger schafft es mit seinem schwachen Plädoyer nicht, die Richter und die Geschworenen umzustimmen. Meursault wird zum Tod durch die Guillotine verurteilt.
V
Meursault weigert sich, mit dem Anstaltsgeistlichen zu sprechen und denkt über Fluchtmöglichkeiten nach. Noch am Abend vor der Urteilsvollstreckung hofft er auf die Annahme seines Gnadengesuches. Als der Geistliche erscheint und ihn bedrängt, sich zu Gott zu bekehren, greift er den Priester an. Die Worte, die er ihm entgegenschleudert, werden zu einer Art eigenem Glaubensbekenntnis Meursaults. Er feiert darin das irdische Dasein und seine Absurdität. Er erkennt, dass er glücklich war und ist. Seiner Hinrichtung sieht er nun gefasst entgegen.
Der Fall’ erschien 1956 (1957 in Deutschland) und war Camus letzter Roman vor seinem Unfalltod 1960. Er sollte in Camus ‚Novellen des Exils’ veröffentlicht werden, erschien aufgrund seines Umfangs dann aber als Einzelwerk.
Die Geschichte spielt in Amsterdam und ist ein Monolog des selbsternannten französischen ‚Bußrichter’ Jean-Baptiste Clamans, der einem Fremden seine Lebensbeichte mitteilt. Er berichtet von seiner Vergangenheit als erfolgreicher Anwalt in Paris, seiner Krise und seinem Leben in Amsterdam. Das Werk umfasst Themen wie Bewusstsein, Freiheit und die Sinnlosigkeit des Lebens.
Der Roman ist in sechs nicht nummerierte oder bezeichnete Kapitel eingeteilt und umfasst knapp 120 Seiten. ‚Der Fall’ besteht aus fünf Monologen, die Clamans an fünf Tagen an fünf verschiedenen Orten hält. Sie starten in der Bar und enden in seinem Apartment.
Jean-Baptiste Clamence / Johannes Clamans
Name: Der Name Jean-Baptiste ähnelt Johannes dem Täufer (John the Baptist) und Clamence (Clamans Name in dem französischen Original) passt zu clamans ‚herausschreien’ im Lateinischen.
Weitere Informationen über Clamans: Johannes Clamans (nicht sein richtiger Name), Rechtsanwalt aus Paris, lebt seit Jahren in Amsterdam und wohnt dort im Judenviertel. Rechtsberater im Hafenviertel, ca. 40 Jahre alt, Junggeselle, liebstes Land Sizilien.
Symbole
‚Der Fall’ ist voller Symbole; die wichtigsten:
Lachen: Der Moment, wenn Clamans das anonyme Lachen vom Wasser kommend hört, markiert einen Wendepunkt in seinem Leben. Clamans hört die Welt, wie sie ihn auslacht – sie urteilt, richtet ihn. Nur er hört das Lachen.
Das van Eyck Bild ‚Die Gerechten Richter’: Das Bild gab es tatsächlich. Gemahlt 1432 von van Eyck als Teil des 26-teiligen Altarbildes in Gent wurde es 1934 gestohlen und ist seitdem verschwunden.
Johannes der Täufer ist der Stadtpatron von Gent und zweimal im Altarbild abgebildet. Die Namensverbindung zwischen ihm und Camus Figur Clamans wurde bereits oben angesprochen.
Warum schließt Clamans das Bild im Schrank ein – zeigt es dann aber doch?
Höhen/Tiefen: Clamans spricht oft von Höhen und Tiefen. Er fühlt sich nur hoch oben wohl. Er will sich anderen überlegen fühlen, daher möchte er auch physisch über anderen stehen. Durch seinen gewählten Aufenthaltsort Amsterdam, eine Stadt unter dem Meeresspiegel, bestraft Clamans sich selbst für seine Sünden.
Bar ‚Mexico City’: Seine Zeit in Amsterdam verbringt Clamans in der Bar ‚Mexico City’. Die Stadt Mexico City ist eine hochgelegene Stadt, fast 2.300 Meter über dem Meeresspiegel. Obwohl jeder in Amsterdam ‚niedrig’ ist, ist es Clamans dadurch indirekt gelungen, sich wieder über allen anderen zu positionieren.
Tauben: Clamans erwähnt mehrfach Tauben in seinen Monologen.
Im Christentum sind Tauben das Symbol des Heiligen Geistes und stehen für Reinheit und Unschuld. Für Clamans sind die Tauben im Himmel, weit weg; sie wollen herunter kommen, aber es gibt keinen Platz für sie. In anderen Worten, kein Platz für Gott und das Gute in Amsterdam. Erst am Ende des Romans „entschließen sie sich, herabzufahren… Alle Welt errettet“
Duplizität / Doppelspiel: Clamans nennt sich selbst den doppel-gesichtigen Janus (Januskopf wäre sein selbst gewähltes Aushängeschild). Er ist nicht, was er scheint. Er ist Anwalt und Büßer, spielt viele Rollen.
Wasser: Wasser spielt eine wichtige Rolle im Roman: Die Frau, die Clamans nicht rettet, fällt ins Wasser und ertrinkt. Clamans lebt in Amsterdam, eine nebelige Stadt voller Kanäle, die unter dem Wasserspiegel liegt. Brücken überspannen die Kanäle, die zu überqueren er sich nachts nicht traut. Das Lachen, das er hört, kommt vom Wasser. Er würde gerne auf Inseln leben; diese sind vom Wasser umschlossen.
Die Verbindung seines Namens zu Johannes dem Täufer: Während dieser das Wasser nutzt, um von den Sünden zu reinigen, liegen Clamans Sünden im Wasser. Doch anstatt ihnen zu entfliehen, wählt er Amsterdam, die Stadt im Wasser als seinen Aufenthaltsort.
Amsterdam: Neben den oben angeführten Gründen wurde Amsterdam noch aus einem anderen Grund gewählt: Mit seinem Vergleich „Finden Sie nicht, dass die konzentrischen Kanäle von Amsterdam den Kreisen der Hölle gleichen?“ stellt Clamans eine Verbindung zu Dantes ‚Göttliche Komödie‘ her.
Titel ‚Der Fall’
Clamans Fall von seinem guten Leben in Paris in das einsame einfache Leben in Amsterdam.
Sündenfall: Durch eigene Schuld ‚fallen’ Adam und Eva aus Gottes Gnade, dem Paradies. Clamans ist schuldig am (Ertrinkungs-)Tod einer Frau und fällt vor sich selbst in Ungnade.
Die junge Frau fällt von der Brücke und ertrinkt – Clamans Untätigkeit sie zu retten löst seinen eigenen Fall in das andere, schlechtere Leben aus.
Was bedeutet das Buch?
Der Höhepunkt (oder Tiefpunkt) von Clamans amoralischem Leben ereignet sich im Kriegsgefangenenlager, wo er einem sterbenden Insassen das Wasser wegtrinkt. Es geht um Schuld und Unschuld. Nach Camus sind alle Menschen schuldig.
Camus lenkt durch die Figur Clamans den Blick auf uns selbst, unsere dunklen Seiten und zwingt uns sich ihnen zu stellen. Bevor man andere Menschen bewertet, sollte man sich selbst bewerten.
Eine Sekunde der Untätigkeit kann das Leben ändern. Im Buch wird eine Spirale in Gang gesetzt, die Clamans über seinen eigenen (Ver)fall in den Abgrund führt. Ein erschütterndes Psychogramm, in dem die Grundfragen von Schuld, Reue und Verantwortung jedes Einz, DE, [SC: 3.90], leichte Gebrauchsspuren, privates Angebot, 64, [GW: 80g], Banküberweisung, [CT: Kulturwissenschaften / Sonstiges - Kulturwissenschaften]<